Ein Blick hinter die Kulissen der Waldhaus-Jugendhilfe Hildrizhausen

Johannes hat auf der Straße gelebt und war kriminell – Dank der Waldhaus-Jugendhilfe Hildrizhausen hat er wieder eine Perspektive

In der Intensiv-Wohngruppe am Waldrand in Hildrizhausen finden junge Männer ein zu Hause, die auf die schiefe Bahn geraten sind – Die KRZ hat einen Blick hinter die Kulissen geworfen Foto: Fotolia

Johannes (Name von der Redaktion geändert) ist 16 Jahre alt, als er von Zuhause rausfliegt. Danach lebt er auf der Straße und gerät auf die schiefe Bahn. Wie er sein Leben in der Intensivwohngruppe der Waldhaus-Jugendhilfe Hildrizhausen wieder in die richtige Spur gebracht hat, hat er der KRZ verraten.

Artikel vom 22. Mai 2019, Kreiszeitung Böblinger Bote

Von Sandra Schumacher

HILDRIZHAUSEN. Wir schreiben das Jahr 2014, Johannes ist 13 Jahre alt. Nachdem sein Vater ausgezogen ist, lebt er nun allein bei seiner Mutter. Und die Probleme zu Hause nehmen ihren Lauf. „Ich habe immer wieder Stress gemacht“, erzählt der heute 18-Jährige, ohne dabei genauer ins Detail gehen zu wollen. In den folgenden drei Jahren geraten Mutter und Sohn immer wieder aneinander, die Streits werden heftiger, bis sie schließlich eskalieren und Johannes Mutter den Jugendlichen in Anwesenheit eines Jugendamt-Mitarbeiters vor die Tür setzt. Der bietet augenblicklich seine Hilfe an. Johannes lehnt sie entschieden ab.

Zu seinem Vater kann und will der damals 16-Jährige nicht gehen, also entscheidet er sich, fortan auf der Straße zu leben. Zur Schule geht er längst nicht mehr, daher fällt es niemandem auf, dass der Junge obdachlos ist. „Normalerweise hätte an dieser Stelle das Inobhutnahme-Programm des entsprechenden Landkreises greifen müssen. Wenn die Jugendlichen es aber clever anstellen, bekommt das Jugendamt erst einmal gar nichts mit. Solche Fälle sind ziemlich selten, passieren aber“, erklärt Michael Weinmann, Bereichsleiter für stationäre erzieherische Hilfen bei der Waldhaus-Jugendhilfe Hildrizhausen.

Rund ein halbes Jahr lebt Johannes auf der Straße

Zwischen fünf und sieben Monate lang – so genau weiß der heute 18-Jährige es nicht mehr – bezieht Johannes Quartier unter Brücken, zwischen Bäumen und Büschen oder wo immer er ein Plätzchen findet, das ihm Schutz vor Wind und Wetter bietet. Manchmal kommt er bei einem Kumpel unter. Aber nicht immer. Seine Eltern wissen um seine Lebensumstände, können oder wollen ihm aber nicht helfen. Zeitgleich wird der junge Mann immer aggressiver und rutscht in die Kriminalität ab. Nimmt beispielsweise Drogen und vertickt sie auch. So lange, bis er eines Morgens nach einer harten Nacht aufwacht und beschließt, sein Leben zu ändern. „Ich hab‘ mich echt scheiße gefühlt und gedacht, dass es so einfach nicht weitergehen kann. Ich wollte endlich wieder eine Zukunftsperspektive haben“, erinnert sich Johannes.

Zu seiner Mutter hat er zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr, also wendet er sich schließlich doch an seinen Vater. Bei ihm kommt der junge Mann einen Monat lang unter, bis ihn das nun eingeschaltete zuständige Jugendamt an die Waldhaus-Jugendhilfe Hildrizhausen vermittelt. Dort bekommt Johannes einen von insgesamt acht Plätzen in der Intensiv-Wohngruppe direkt am Waldrand. Rund zwei Jahre ist das nun her. Seitdem hat sich viel getan im Leben des jungen Mannes, der so weit von seinem Weg abgekommen war.

„In unserer Intensiv-Gruppe betreuen wir Jungs, die schon lange keinen geregelten Tagesablauf mehr kennen, Gewaltpotential in sich tragen oder in die Kriminalität abgerutscht sind“, erklärt Michael Weinmann. „Für viele von ihnen ist der Platz hier eine gerichtliche Auflage. Andernfalls säßen sie im Jugendknast oder der Jugendpsychiatrie.“ Ziel ist es, den jungen Menschen eine zweite Chance zu geben. Die sie aber auch aktiv nutzen müssen. „Es gibt immer wieder Fälle, da können wir nichts tun“, sagt Michael Weinmann, „auch wenn wir viel Geduld und einen großen Toleranzbereich haben.“ Wenn allerdings eine zu starke Drogenproblematik vorherrscht oder es vermehrt dazu kommt, dass die anderen Mitglieder der Wohngruppe zu stark psychisch oder physisch angegangen werden, müsse das Betreuerteam irgendwann einen Schlussstrich ziehen.

Nicht so bei Johannes, der sich innerhalb der nächsten zwei bis drei Monate einlebt. „Mit den Betreuern war es von Anfang an super, nur einige der anderen Bewohner haben manchmal genervt. Das muss man halt aushalten“, erzählt der 18-Jährige. In seinem neuen Heim in Hildrizhausen erhält er neben einem rund 15 Quadratmeter großen Zimmer und einer internen schulischen Ausbildung vor allem Regeln und eine vorgegebene Tagesstruktur. Von nun an klingelt der Wecker ihn jeden Morgen um sieben Uhr aus dem Bett, danach steht ein Waldlauf an, bevor er auf der Schulbank Platz nimmt oder Arbeitsmaßnahmen absolviert. Dabei hilft er zum Beispiel beim Holzhacken auf dem Gelände oder beim Schrauben in der hauseigenen Werkstatt mit. Ebenso beinhaltet das pädagogische Konzept des Waldhauses wöchentlich stattfindende Gruppen- und Einzelgespräche. Und auch die körperliche Betätigung ist eine Pflichtaufgabe: Jeden Montag geht es auf den Fußballplatz, aber auch Basketball, Tischtennis oder Klettern gehören zum Sportangebot. Handball – jene Sportart, für die die Waldhaus-Gründerfamilie Artschwager bis heute bekannt ist – steht allerdings nicht mehr auf dem Stundenplan. „Weil das Interesse daran einfach nicht mehr so groß ist“, begründet Michael Weinmann.

Tanzt einer der Jungs zu stark aus der Reihe, muss er die Konsequenzen tragen. Reicht das nicht aus, hilft die Gruppendynamik weiter. „Wenn man zum Beispiel dreimal beim Kiffen erwischt wird, muss die ganze Gruppe einen Dauerlauf absolvieren. Die Methode zieht“, sagt Johannes und grinst. „Unser Anliegen ist es, dass die Jungs ihre Probleme mithilfe der Betreuer und der Gruppe geregelt bekommen“, fügt Michael Weinmann hinzu. Schließlich könne ein solches Fehlverhalten negative Auswirkungen beispielsweise auf jene Bewohner haben, die aufgrund einer Bewährungsauflage nicht in Kontakt mit Drogen kommen dürfen.

Heute hat Johannes wieder Kontakt zu seinen Eltern

Für Johannes, der bis dato orientierungslos in den Tag hineingelebt hat, bedeuten die neuen Regeln eine ganz schöne Umstellung, die ihm jedoch dabei hilft, zurück in die Spur zu finden. Schützenhilfe erhält er zudem von den insgesamt acht Waldhaus-Mitarbeitern, die die Jungs rund um die Uhr betreuen. „Außerdem bekommt jeder Jugendliche einen eigenen Bezugsbetreuer zugeteilt“, erläutert Michael Weinmann. Der setzt sich intensiv mit den speziellen Problemen seines Schützlings auseinander, übernimmt organisatorische Aufgaben und ist für die intensive Elternarbeit zuständig. Dazu gehören regelmäßige Gespräche – je nach Fall mit oder ohne den Jugendlichen -, bei denen die Rollen und Systeme innerhalb des Familienlebens analysiert werden. „Wenn es möglich ist, versuchen wir, auf diese Weise eine Annäherung der Parteien zu erreichen“, sagt Michael Weinmann.

Eine Methode, die in Johannes Fall Früchte trägt. Heute hat er wieder regelmäßigen Kontakt mit seinem Vater und sporadisch auch zur Mutter. Das Wichtigste aber ist, dass er zu sich selbst zurückgefunden hat. „Heute lasse ich mich nicht mehr so leicht provozieren, beispielsweise wenn mich jemand auf der Straße blöd anguckt. Das wird einem hier ausgetrieben“, sagt Johannes, der mittlerweile in einem Ablösezimmer mit gelockerten Regeln auf dem Waldhaus-Gelände wohnt und bald in eine betreute Jugendwohnung umziehen will. Zudem hat er über die internen Schulungsmaßnahmen seinen Hauptschulabschluss nachgeholt, anschließend sogar die Werkrealschule besucht, wo bald seine Abschlussprüfungen anstehen.

Und danach? „Ich möchte das Technische Gymnasium in Sindelfingen besuchen und anschließend Pilot werden“, sagt Johannes. Heute habe er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und blicke wieder optimistisch in die Zukunft. Weil er sich dazu entschieden hat, die zweite Chance, die ihm das Waldhaus gegeben hat, zu nutzen. Und somit eine weitere Erfolgsgeschichte darstellt, die sich die Jugendhilfe-Einrichtung auf die Fahnen schreiben kann.