Fachkräftemangel: Quereinsteiger werden dringend gebraucht

Gerlinde Wicke-Naber,  07.12.2018, Stuttgarter Nachrichten

Das Waldhaus geht den Fachkräftemangel kreativ an und finanziert berufsfremden Mitarbeitern ein Fernstudium. Weitere Sozialeinrichtungen könnten dem Beispiel folgen. Doch trotz fehlenden Personals wird das Angebot kaum genutzt.

Sindelfingen – Yousof Neisi wirkt entspannt. Trotz Dreifachbelastung mit Job, Studium und Familie macht der 39-Jährige einen gelassenen Eindruck. Noch vor einem Jahr sah das etwas anders aus. Damals hatte Neisi gerade sein Fernstudium der Sozialen Arbeit begonnen und stand mächtig unter Druck. „Ich habe große Schwierigkeiten mit dem Stoff, vor allem wegen der Sprache“, berichtete er damals. 

Zwei Semester später ist sich der Iraner, der vor fünf Jahren nach Deutschland geflüchtet ist, sicher: „Ich schaffe das Studium, wenn auch etwas langsamer als geplant.“ Dabei hilft ihm ein striktes Zeit- und Organisationsmanagement. „Ich stehe morgens um 5 Uhr auf, um noch vor der Arbeit zu lernen. Abends gibt es dann zwei weitere Stunden Lernzeit.“ Die Wochenenden jedoch seien tabu, sagt Neisi. „Die gehören ganz der Familie.“ 

Viele Fachfremde arbeiteten in der Flüchtlingskrise mit Ausnahmegenehmigung

Und er weiß, dass er die volle Unterstützung seines Chefs Uwe Seitz und seiner Kollegen hat. Denn die wollen Neisi unbedingt behalten. „Er verkörpert Tugenden wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Außerdem unterstützt er uns in der Arbeit mit Flüchtlingen, die aus dem gleichen Kulturkreis wie er stammen“, sagt Seitz.

Neisi war einer der vielen fachfremden Quereinsteiger, die das Waldhaus, wie viele andere Sozialunternehmen in der Flüchtlingskrise, mit einer Ausnahmegenehmigung eingestellt hatte. „Ohne diese Mitarbeiter hätten wir die Arbeit nicht geschafft“, sagt Hans Artschwager, der Chef des Waldhauses. Als weniger unbegleitete minderjährige Ausländer einreisten, endete auch die Ausnahmeregelung für die Berufsfremden. Doch Artschwager wollte die bewährten Kräfte halten. Denn Fachkräftemangel ist nicht nur ein Problem im Handwerk und in der Pflege. Auch viele soziale Einrichtungen suchen händeringend Mitarbeiter. 

Gefragt sind vor allem Leute mit Lebenserfahrung

Besonders gefragt sind Menschen mit Lebens- und Berufserfahrung. „Bei unseren Projekten mit Langzeitarbeitslosen macht es keinen Sinn, wenn eine 25-Jährige einem 50-Jährigen sagen will, wo es langgehen soll“, sagt Uwe Seitz. Deshalb seien Mitarbeiter wie Yousof Neisi hochwillkommen. 

Das sieht auch Ursel Wolfgramm so. Die Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands entwickelte auf Anfrage von Hans Artschwager gemeinsam mit der Fernhochschule Riedlingen einen Studiengang Soziale Arbeit. „Die Quereinsteiger sind eine Bereicherung für den Studiengang“, sagt sie. Kenntnisse aus anderen Branchen, zum Beispiel der freien Wirtschaft, könnten die Mitarbeiter auch in die sozialen Einrichtungen einbringen. 

Yousof Neisi war in seiner Heimat Filmregisseur und arbeitete als Dolmetscher für arabische Botschaften. Sowohl seine Sprachkenntnisse als auch seine kreativen Fähigkeiten sind im Waldhaus gefragt. 

Mit fünf Waldhauskollegen begann er vor einem Jahr das berufsbegleitende Studium. „Hochmotiviert“ seien die Waldhaus-Studenten , lobt Angela Teichert, eine Professorin an der Hochschule Riedlingen, die Teilnehmer, die sie aus einigen Seminaren kennt. „Sie bringen ihre Erfahrungen aus der praktischen Arbeit direkt ein. Das bereichert.“ 

Yousof Neisi hat während des Lesens der Studienbriefe immer wieder Aha-Erlebnisse. „Da werden Probleme geschildert, die ich täglich erlebe.“ Er lernt durch das Studium, professionell an solche Situationen heranzugehen, und erhält Rüstzeug wie Gesprächstechniken. 

Die enge Verzahnung von Theorie und Praxis sieht auch Uwe Seitz als großen Vorteil des Studiums der Quereinsteiger. „Ich habe Yousof in meine Beratung für häusliche Gewalt eingebunden.“ Neisi gebe ihm wertvolle Hinweise bei der Beratung eines afghanischen Mannes. „Er kann mir die kulturellen Hintergründe erklären.“ Auch seine Sprachkenntnisse – Neisi spricht Farsi und Arabisch – seien dabei sehr nützlich. 

13 000 Euro pro Person investiert das Waldhaus in die Qualifizierung jedes Mitarbeiters. Unverständlich ist es Ursel Wolfgramm, warum keine andere Organisation dieses Qualifizierungsangebot des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Anspruch nimmt. „Alle suchen Fachkräfte. Hier haben wir ein Angebot, bewährte Leute an die Einrichtung zu binden“, wirbt sie. 

Für Hans Artschwager ist diese Qualifikation der Schlüssel zu mehr Mitarbeitern: „Wir sind überzeugt, dass wir mit diesem Weg Menschen für soziale Arbeit gewinnen werden, die aufgrund ihrer bisherigen Berufsbiografie diesen Weg nicht eingeschlagen hätten.“

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Aus bösen Buben wurden respektable Männer

von Gerlinde Wicke-Naber,  13.07.2017, Stuttgarter Nachrichten

Die Jugendhilfeeinrichtung Waldhaus in Hildrizhausen hat zu ihrem 60-jährigen Bestehen auch Ehemalige eingeladen. Zwei von ihnen erzählen, wie sie im Heim mitten auf dem Land die Grundlagen fürs Leben gelernt haben.

Hildrizhausen – Gaudenzio Filos und Dieter Zimmermann sind respektable Männer mit ergrautem Haar. Zimmermann hat sein Leben lang als Hausmeister in diversen Einrichtungen und Firmen für Ordnung gesorgt, nun ist er Rentner. Filos arbeitet als Betriebsleiter bei einem Umzugsunternehmen in der Schweiz. Beide haben Kinder, sind mittlerweile Großväter. Ein bürgerliches Leben haben sie sich aufgebaut. Doch vor 40, 50 Jahren schien das alles andere als selbstverständlich. 

„Ich hatte ein hohes Aggressionspotenzial und war ständig in Schlägereien verwickelt“, erzählt Gaudenzio Filos. Der Vater starb, als Filos ein Baby war. Die Mutter wanderte von Italien in die Schweiz aus. Weil sie arbeiten musste, gab sie den Jungen in Pflege. „Meine Pflegeeltern waren sehr alt“, sagt der 59-Jährige. Als der Pflegvater 1972 starb, war der Junge 14 und mitten in der Pubertät. Das Jugendamt schickte ihn nach Hildrizhausen ins Waldhaus. „Böse- Buben-Heim­“ hieß es damals bei vielen Einheimischen in der Umgebung. „Wir hatten schon einen Ruf als Ganoven“, so Filos. Dabei verdanke er dem damaligen Chef Hans Artschwager senior viel. „Er hat verstanden, mit meinen Aggressionen umzugehen.“ Vor allem der viele Sport, der im Waldhaus ganz oben auf der Prioritätenliste stand, habe ihm geholfen, sagt Filos.

Der jetzige Chef ist im Waldhaus groß geworden

1957 hatte Hans Artschwager senior das Waldhaus gegründet. Kurz zuvor war der Maurer und Jugendwohlfahrtspfleger nach Hildrizhausen gekommen, um im dortigen Heim der Bewährungshilfe junge Straffällige auf den rechten Weg zu führen. Als der Leiter ging, baute Artschwager das Haus um, machte es zu einer GmbH und richtete den Fokus vor allem auf die Prävention. Die Betreuung von Jungen in schwierigen Lebenslagen wurde zu seinem Lebenssinn. Seine drei Söhne Hans, Wolfgang und Axel wurden in die Einrichtung hineingeboren, wurden dort groß. „Ich war mit den Artschwagerbuben befreundet, habe mit ihnen fast täglich Handball gespielt“, erzählt Filos.

Handball war die zweite große Leidenschaft von Artschwager senior. Er gründete den Handballverein BC Waldhaus, in dem bald nicht nur Schützlinge und Mitarbeiter der Einrichtung spielten, sondern auch viele Jugendliche aus dem Dorf. „Das war eine gute Form der Integration“, sagt Dieter Zimmermann. Der 67-Jährige verbrachte insgesamt zehn Jahre im Waldhaus. „Beim ersten Mal war ich 16, das zweite Mal kam ich als Mitarbeiter zurück.“ 

Das Waldhaus hat die Familie ersetzt

Im Waldhaus habe er zum ersten Mal „so etwas wie Familie erlebt“, sagt Zimmermann: „Ein richtiges Zuhause habe ich vorher nicht gekannt.“ Mit dem Freund der alleinerziehenden­ Mutter sei er nicht klar gekommen und deshalb immer viel herumgestreunt. Bis das Jugendamt einschritt und den 16-Jährigen aus der Großstadt Frankfurt „in die Pampa“ verfrachtete. „Das war ein echter Kulturschock.“ 

Doch er habe sich schnell eingewöhnt, die Vorteile des Landlebens erkannt. „Der Sport und das Arbeiten auf dem Gelände, das war richtig für mich“, ist sich Zimmermann sicher. „Mein Vater hat Wert auf Sport und Abenteuer gelegt. Das sind die Grundlagen unserer Arbeit. Heute nennt man das Erlebnispädagogik“, sagt Hans Artschwager junior, der nach dem Tod des Vaters die Geschäftsführung übernahm. In die Großstadt ist Zimmermann nie zurückgekehrt. Mit 20 verließ er die Einrichtung. Bis heute lebt er in Herrenberg, nur wenige Kilometer vom Waldhaus entfernt. 

Die Grundlagen fürs Berufsleben gelernt 

Gaudenzio Filos hingegen war beim großen Ehemaligentreffen, zu dem das Waldhaus zum 60-Jahr-Jubiläum geladen hatte, „das erste Mal seit 41 Jahren wieder da“. Sehr emotional sei das gewesen: „Hier habe ich die Grundlagen für mein Leben erhalten, gelernt, meine Aggressionen in den Griff zu bekommen.“ Er absolvierte eine Ausbildung in der Metallwerkstatt der Einrichtung. Auch Dieter Zimmermann holte sich im Waldhaus das Rüstzeug für sein Leben. „Die Metallwerkstatt war nichts für mich. Aber ich habe überall auf dem Gelände Handwerksarbeiten verrichtet. Und so hatte ich später immer einen Job als Hausmeister.“ Von 1980 bis 1987 war er sogar Hausmeister im Waldhaus. 

Wie viel Glück er hatte, ausgerechnet im Waldhaus und nicht in einer anderen Jugendhilfeeinrichtung zu landen, wurde Gaudenzio Filos klar, als er vor einigen Jahren mit einem Arbeitskollegen auf ein anderes ehemaliges Heimkind traf: „Der hat mir schreckliche Geschichten von Schlägen und so erzählt.“ Derartiges habe er im Waldhaus nie erlebt. 

Wichtig sei die Arbeit der Pädagogen auch heute noch, sind sich Filos und Zimmermann einig. „Es gibt viele Jugendliche, die Schwierigkeiten haben – mit der Familie, Drogen, Alkohol, Gewalt“, sagt Filos. „Man muss alles tun, um diesen Jugend­lichen zu helfen. Bei mir hat es gewirkt.“

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Kein Jugendlicher soll verloren gehen

Runder Tisch Bildung Beruf kümmert sich darum, dass junge Menschen im Kreis einen Job erhalten

Artikel vom 02. Juni 2017 – 17:00

KREIS BÖBLINGEN (red). Der Runde Tisch Bildung Beruf traf sich vor Kurzem im Landratsamt Böblingen. Am Runden Tisch beteiligte Akteure sind außer dem Landratsamt die Agentur für Arbeit, das Jobcenter, die Industrie- und Handelskammer, die Kreishandwerkerschaft, das Staatliche Schulamt sowie Vertreter der freien Träger, der Bürgermeister, der Beruflichen Schulen des Landkreises Böblingen und des Regierungspräsidiums Stuttgart. Der Runde Tisch befasst sich mit den Themen Bildung und Ausbildung für junge Menschen im Landkreis Böblingen.

Landrat Roland Bernhard, der die Treffen moderiert, betonte die Bedeutung: „Wir müssen alles dafür tun, dass uns kein Jugendlicher auf dem Weg von der Schule in das Berufsleben verloren geht. Wenn wir unsere Jugendlichen auf dem Bildungsweg fördern, stärken wir damit auch die ortsansässigen Unternehmen. Die Integration von Geflüchteten gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung“.

Thomas Wagner, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Böblingen, und David Fais, Leiter der Berufsbildung in der IHK-Böblingen, bestätigten einen positiven Trend der Wirtschaftslage. „Diese Chance gilt es zu nutzen“, erläuterte der Geschäftsführer des Jobcenters im Landkreis Böblingen, Clemens Woerner, und die Geschäftsstellenleiterin der Agentur für Arbeit, Gabriele Baderschneider.

Diese beteiligen sich neben dem Amt für Jugend an der 2016 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Jugend – Beruf. Am Freitag richteten sie eine Jugendkonferenz zum Thema „Übergang Schule – Beruf für junge geflüchtete Menschen gelingend gestalten“ aus. Eingeladen waren rund 120 haupt- und ehrenamtliche Vertreter aus allen relevanten Bereichen“, teilte der Leiter des Jugendamts Wolfgang Trede mit.

Projekte für Flüchtlinge

Das Bildungsbüro wurde damit beauftragt, das Übergangssystem Schule-Beruf noch transparenter zu machen. Zum einen wird auf einer Homepage eine Datenbank mit Übergangsangeboten aufgebaut. Zum anderen soll ein Plakat entwickelt werden, auf dem die Akteure dargestellt sind.

Werner Diebold, Geschäftsführender Schulleiter der beruflichen Schulen im Landkreis Böblingen, ging auf die aktuelle Situation des Vorqualifizierungsjahres „Arbeit/Beruf ohne Deutschkenntnisse“ für Flüchtlinge (VABO) ein. An der Gottlieb-Daimler-Schule 2 wurde Anfang Februar eine weitere VABO-Klasse aufgemacht. Ergänzend wurde am Schickhardt-Gymnasium in Herrenberg eine Deutschlernklasse eingerichtet. „Die Warteliste für Flüchtlinge für eine VABO-Klasse im Landkreis Böblingen ist damit abgearbeitet“, so Diebold.

Die Leiterin des Staatlichen Schulamts Böblingen, Angela Huber, zeigte sich darüber sehr erfreut. Sie lobte in diesem Zusammenhang auch das Projekt der Sprach- und Kulturmittler als weiteren Baustein zur Integration. Kreisrat Hans Artschwager, Geschäftsführer der Waldhaus gGmbH, beschrieb detailliert, wie in Einrichtungen des Waldhauses untergebrachte Jugendliche bei der Integration in Schule und Ausbildung unterstützt werden.

„Ich freue mich, dass mehrere Projekte für Flüchtlinge beim Landratsamt Böblingen laufen“, bemerkte Sozialdezernent Alfred Schmid. Ab April wird es zwei Bildungskoordinatoren geben. Die Amtsleiterin des Amtes für Schule und Bildung, Michaela Futter, erklärte: „Die Bildungskoordinatoren wurden für den Zeitraum März 2017 bis Februar 2019 beim Bundesministerium für Bildung und Forschung beantragt und sind dem Bildungsbüro zugeordnet. Dabei handelt es sich um eine Vollfinanzierung der Personalkosten“.

Neue Fachstelle

Weitere Projekte werden im Amt für Migration und Flüchtlinge unter der Leitung von Katharina Pfister umgesetzt. „Die Maßnahmen Empowerment für Flüchtlingsfrauen, SIBE-Projekt sowie Sprach- und Kulturmittler werden einen wichtigen Beitrag zur Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt leisten“, teilte Pfister mit und fügte hinzu: „Als weitere Maßnahme schafft das Landratsamt ab Mai eine Fachstelle für interkulturelle Kompetenz. Diese dient als Anlaufstelle für Unternehmen, Schulen und andere Institutionen, die geflüchtete Personen oder Migranten beschäftigen oder andere Integrationsleistungen erbringen“. Es werden Schulungen zur interkulturellen Kompetenz angeboten sowie Coachings und Gutachten zur Organisationsentwicklung.

„Wir sind auf einem guten Weg und haben wichtige Projekte angestoßen. Jetzt gilt es, diese weiterzuverfolgen“, zog Landrat Roland Bernhard ein Résumé.

https://www.krzbb.de/krz_50_111331731-13-_Kein-Jugendlicher-soll-verloren-gehen.html?archiv=1

Minister tankt am Kraftort Waldhaus auf

Manfred Lucha schaut auf seiner Sommertour in Hildrizhausen vorbei und gratuliert Hans Artschwager zum 60. Geburtstag

So macht das Minister-Dasein Spaß: Am Montagmorgen verband Manfred Lucha das Nützliche mit dem Angenehmen, als er bei den „besten Institutionen und den lässigsten Festen“ vorbeischaute. Im Waldhaus Hildrizhausen feierte nämlich Hans Artschwager seinen 60. Geburtstag.

von Otto Kühnle, 15. August 2016, Kreiszeitung Böblinger Bote

HILDRIZHAUSEN/KREIS BÖBLINGEN. Die Einladungen an Mitarbeiter und Sozialpartner, die Handballgemeinde und die Politik waren schon raus, als aus Stuttgart die Anfrage kam, ob denn das Waldhaus als vielfältig engagierter Träger in der Jugendhilfe dem neuen Sozial- und Integrationsminister die Arbeit präsentieren könne. Da musste Hans Artschwager nicht lange nachdenken, denn zu seinem 60. Geburtstag hatte er ein Weißwurstfrühstück arrangiert – „und das passt ja zu dem aus Bayern stammenden Minister“, mutmaßte er. Und wie es passte: Diese Einladung nahm der „Manne“ sofort an, setzte sich nach seinem Rundgang auch gerne an den Tisch, um mitzufeiern.

Der hemdsärmelig-unkomplizierte Mann aus Ravensburg mit bayrischen Wurzeln hatte gleich zu Beginn in kleiner Runde deutlich gemacht: „Man darf Manne zu mir sagen.“ Der neue Mann an der Spitze des Ministeriums nimmt sich auch mal selbst auf die Schippe, wenn er sich als „Integrationsminister, der sich seit 34 Jahren in Baden-Württemberg integriert“ bezeichnet. Gebürtig ist er aus Altötting, was man seinem Slang noch immer anhört. Den Dialekt pflegt er ebenso wie er gerne mit den Händen gestikuliert, doch ist er ganz konzentriert bei seinen Gesprächspartnern.

Mit einem Film wird er an die Arbeit des Waldhauses mit Unbegleiteten Minderjährigen Ausländern (UMA) herangeführt. Michael Weinmann, der Bereichsleiter der stationären Hilfen, nimmt den Gast dann an die Hand und führt ihn zu den Infotafeln mit den Mitarbeitern, die das das Angebot des Waldhauses in seiner Breite präsentieren. Mit 80 jungen Flüchtlingen kümmern sich die Waldhäusler um einen großen Anteil der 220 im Kreis untergebrachten Minderjährigen. Die kommen nicht nur aus den „klassischen“ Ländern wie Syrien und Afghanistan, sondern zunehmend auch aus Somalia, Gambia, Eritrea und Äthiopien. „Es ist schwierig, qualitätvolles Personal zu finden“, zudem sei es auch eine große Herausforderung, Plätze zu schaffen. „Mit optimistischem Pragmatismus blicken wir in die Zukunft“, gibt sich das Waldhaus aber positiv gestimmt. Auch wenn Hans Artschwager darauf hinweist, dass sich von den 80 jungen Menschen eben zehn nur schwierig integrieren lassen – so problematisch sind, dass man die anderen UMAs auch mal vor deren Aggressionen schützen muss. Und für jene, die zurück wollten, aber nicht könnten, müsse die Politik auch nach Lösungen suchen.

Wie das Waldhaus in zwölf Kommunen von der Jugendarbeit über die Schulsozialarbeit bis zur Ganztagsbetreuung unterwegs ist, verfolgte Lucha aufmerksam. Und für die Stadt Leonberg als Partner bestätigte Gabriele Schmauder auch, dass dort „hervorragende Arbeit“ geleistet werde. „Wir kürzen nicht rein, wir lassen sie in Ruhe“, beruhigte Lucha und unterstützte die Absicht, aus der Schule mehr als einen Lernort zu machen, nämlich einen Lebensort. „Geht’s Euch gut, läuft’s in der Jugendarbeit?“, wollte Lucha wissen und sprach das abgesenkte Wahlalter mit 16 an. Doch in Sachen Jugendbeteiligung, zog Annemarie Lemeunier das Fazit eines umfangreichen Projektes auf der Schönbuchlichtung, „klappt manches gut, manches aber auch nicht“. Und nach wie vor, wurde dem Minister ein Wunschzettel überreicht, fehle es für die Jugend an Räumlichkeiten und die Förderung dafür.

Aus Betroffenen Beteiligte zu machen versuchen die Mitarbeiter in der ambulanten Hilfe, wo sie ein Partizipationsprojekt gestartet haben, das die ganze Familie bei Schwierigkeiten in den Blick nimmt und vermehrt eigene Kräfte der Betroffenen wecken will – mit dem Blick auf die Kinder. Dass sich das Waldhaus auch um jene Jugendlichen kümmert, die durch alle Raster gefallen sind, wurde beim Besuch in der Intensivgruppe deutlich. Die ist „bundesweit gefragt“, mit acht Personen für die acht Jungs zwischen 14 und 18 Jahren wird ein hoher Aufwand getrieben. Aber das verpflichtende Angebot straff organisierter Sport-AGs hat viele auch schon straffällige junge Leute wieder in die Spur gebracht.

Fehlanzeige beim jugendpsychiatrischen Verbund

Für den Minister entpuppte sich das Waldhaus als „Kraftort“, wie er gut gelaunt bekannte. Der Kreis Böblingen sei sehr selbstbewusst aufgestellt, beim persönlichen Budget für Menschen mit Behinderung auch Vorreiter gewesen. „Wohnortnah, gemeindenah, personenzentriert“, lobte er die Angebote. Um dann doch nach einer Schwachstelle zu fragen. Ein jugendpsychiatrischer Verbund, der fehlt nämlich noch – nicht zu letzt der nicht vorhandenen Betten wegen, die erst von Calw-Hirsau in den Kreis verlegt werden. Und bei den Psychiatern droht in den nächsten Jahren ohnehin ein Engpass, konterte Sozialdezernent Alfred Schmid gegenüber dem über viele Jahre in der Psychiatrie beschäftigten Politiker.

Dann ließ sich sich Lucha die Weißwurst schmecken, nachdem er auch den Flyer des Projektes Oase in der Jugendberufshilfe mit Vokabeln in acht Sprachen bis hin zum Arabischen seinem Tross überantwortet hatte. „Soll ich jetzt Arabisch lernen?“, fragte er maliziös und bekannte: „Manche meinen, mein Bayrisch wär‘ schon Arabisch.“

https://www.krzbb.de/krz_50_111143112-13-_Minister-tankt-am-Kraftort-Waldhaus-auf.html?archiv=1